Es ist November 2015, das Wetter in Deutschland ist grau, regnerisch und kalt. Draußen wird es langsam hell. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. Und sofort ist er wieder da, der Ohrwurm, der mich schon die letzten Tage begleitet hat, immer wenn ich an den gestrigen Tag gedacht habe.
Von den blauen Bergen kommen wir... Ja, liebe Leser, das Wetter in Deutschland ist mir in diesem Moment unfassbar egal, denn ich befinde mich bereits seit gestern Abend in den Blue Mountains, etwa 150 km westlich von Sydney, New South Wales, Australien. Nachdem ich die Schiebetür unseres zum Camper ausgebauten Toyota Hiace geöffnet habe, führt mein Blick unweigerlich nach oben in Richtung der mächtigen Bäume, innerhalb deren Schatten wir übernachtet haben. Unser Camping-Atlas schlug uns diesen wunderschön malerisch gelegenen Waldparkplatz als kostenlose Abstellgelegenheit inmitten des nach den blauen Bergen benannten National Parks vor und wir stimmtem diesem Vorschlag zu, auch wenn die Beblattung der Bäume nach meinem eingeschränkten Farb-Seh-Vermögen eher im gewöhnlichen Grün anstatt im extravaganten Blau daherkommt.
So gab es also mitten im November ein Outdoor Frühstück in kurzen Hosen (ja, ich weiß, das heißt bei mir nichts) unter blühenden Bäumen mit leckerem Rote-Beete-Dip auf Toast und anderen Schweinereien des australischen Kontinents. So könnte jeder Tag beginnen. Das Frühstück wird mit einem kleinen australischen Rülpser meinerseits für beendet erklärt und nach kurzer Programmatur des satellitengestützen Routenvorlesegerätes, schwinge ich mich auf den rechts vorne in unserem kombinierten Wohn-/Schlafzimmer gelegenen Sitz und starte die Maschinen. Doch was hatte ich überhaupt in die an unserer Frontscheibe klebende technische Einrichtung eingegeben?
Die Parks und Achterbahnen an der viel weiter nördlich gelegenen queenslandschen Gold Coast liegen bereits einige Tage hinter uns und die südlichste Achterbahn der Welt im melbourneschen Luna Park soll erst im späteren Verlauf des Trips folgen, aber nichtsdestotrotz wollen wir auch heute
was fahr'n. Und so kommt es, dass das Städtchen Katoomba und die in ihr gelegene Scenic World heute unsere volle Aufmerksakeit erhalten sollen. Und so megalong war die Road dahin jetzt auch nicht.
Nach kurzer Fahrtzeit parken wir auf dem noch leeren Parkplatz des mit drei verschiedenartigen Seilbahnen ausgestatteten Ausflugszieles. Der Eingangsbereich sieht ein wenig nach Baustelle aus und zu meiner Belustigung stelle ich fest, dass die Kabel und Wasserschlauch führende Traverse quer über den Haupteingang aussieht wie eine Achterbahn-Schiene. Sehr lustig, diese Australier. Nach der Entrichtung des Eintrittspreises in mir nicht mehr bekannter Höhe startet unser Ausflug mit der ersten Seilbahn. Es ist "die steilste Eisenbahn der Welt" und ich frage mich in wie vielen Sprachen der Einlass gewährende Mitarbeiter, der alle ankommenden Gäste nach Ihrer Herkunft fragt, im Stande ist diese Tatsache zu erklären, denn tatsächlich, er nannte sie wortwörtlich "die steilste Eisenbahn der Welt", ich habe hier nichts für den übersetzungsfaulen Onrider in die deutsche Sprache überführt.
Wir bewundern den Ausblick in die blauen Berge und besteigen ein bereitstehendes rotes Gefährt, welches sich bereits kurz nach unserem Niederlassen in Bewegung setzt. Nach unten! Steil! WOW! Sehr steil! Glücklicherweise haben wir unsere Sitzreihe in die (am Start zumindest) liegendste von drei möglichen Neigungswinkelstellungen gebracht, denn selbst mit dieser Position schaffen wir es auf dem steilsten Stück der Strecke nur durch beherztes Füße gegen die Vorderbank Drücken ein hinunterrutschen zu verhindern. Ja, das Teil ist wirklich extrem steil und auch wenn die Marketing-Abteilung der Aussichtswelt (Ok, jetzt doch ein Gefallen für übersetzungsfaule Onrider) nicht müde wird zu betonen, dass es sich um die steilste Eisenbahn der Welt handelt: Wir sind sehr überrascht,
wie steil man hier den Berg heruntergelassen wird.
Fotografisch festhalten konnte ich aufgrund des mich selbst Festhaltens nur das unsteilste Stück der Strecke sowie einen ausgestellten historischen Wagen:
Mit der sehr skurrilen und irgendwie beängstigenden Vorstellung im Kopf in diesem Gefährt die soeben absolvierte Strecke hinabzugleiten, machen wir uns auf den Weg zur nächsten Seilbahn. Wir wollen schließlich wieder nach oben. Diesmal in einer Gondelbahn, welche ähnlich steil, aber aufgrund der durch ihre bei Fortbewegungsmitteln ihrer Art übliche Aufhängung und dem damit verbunden Ausgleich des Gefälles und einem demzufolge nahezu horizontalen Gondelboden doch ein gutes Stück unspektakulärer daherkommt.
Doch ein anderer Teil der Gondelbergauffahrt soll die Spektakularität ebenjener doch noch in unermessliche Höhen führen. Die die Auffahrt über ein Bordmikrofon kommentierende Dame, erklärt mit ihrem unnachahmlichen australischen Akzent, was es alles rundherum zu sehen gibt und plötzlich ereilt mich eine Sinnestäuschung.
Rollercoaster... Hat sie gerade
Rollercoaster gesagt? HAT SIE GERADE
ROLLERCOASTER GESAGT? Sofort fangen meine Synapsen an zu rattern. Ja, der komische Felsfinger da hinten am anderen Ende der Schlucht heißt
Orphan Rock, das wurde ja schon gesagt. Orphan Rock... Rollercoaster... Orphan Rocker... ORPHAN ROCKER!
THE ORPHAN ROCKER!!! Jeder Achterbahn-Fan hat schon vom Orphan Rocker gehört. Ein Mythos. Ich natürlich auch. Aber wie ich es geschafft habe
vollkommen zu verdrängen, dass diese legendäre und seit fast dreißig Jahren nicht fahrende und nie eröffnete einzige Achterbahn eines australischen Herstellers direkt hier mitten in den Blue Mountains steht, das ist mir wahrlich ein Rätsel. Es ist noch früh am Tag, aber auch für weitere Höchstleistungen in der Kombinatorik ist mein Hirn nun bereit. Die Traverse über dem Eingang, mit deren Hilfe Wasser- und Stromleitungen zu einer Baustelle geführt wurden,
war wirklich eine Achterbahnschiene! Deswegen hat die Traverse auch geneigte Kurven! Das ergibt auf einmal alles Sinn! Der Orphan Rocker. Jene Achterbahn, die an einem über 200 Meter tiefen Abgrund in einer Steilkurve entlang fährt und angeblich bei Testfahrten hier regelmäßig mitfahrende Testdummies und Sandsäcke in ebenjene Schlucht beförderte.
Direkt nachdem die schwebende Gondel sanft ihren Zielbahnhof erreicht, stürmen wir raus in Richtung der Schienen. Da, am Haupteingang, da führt sie lang. Hin da! Fotos machen!
Auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen, zietiere ich mich an dieser Stelle gerne nochmal selbst:
Lustig, die Traverse hier sieht aus wie eine Achterbahn-Schiene! Natürlich folgen wir der Strecke um weitere Blicke auf dieses Kleinod der australischen Achterbahnbaukunst (oder eben nicht Kunst...) zu werfen. Und sofort ist der Sherlock Holmes in mir geweckt, der natürlich alles wissen will: Wo ging es los, wo war der Bahnhof, wo führte die Strecke weiter entlang. Wie man auf den Bildern sieht, ist schon verdammt lange kein Zug mehr über die Strecke gerollt, aber der hierdurch verbreitete Lost-Place-Charme in Kombination mit der für mich vollkommen überraschenden Entdeckung, dass wir es hier mit dem
legendären Orphan Rocker zu tun haben, stoßen beinahe eine vergleichbare Menge Adrenalin aus wie bei einer Fahrt auf entsprechenden Gleisen.
Der Einstiegsbereich, so finden wir schnell raus, muss sich im Gebäude befunden haben, in welchem auch alle drei Seilbahnen sich vereinen. Danach führt die Strecke aus dem Gebäude, nach dem oben gezeigten kleinen Lift dann ersteinmal am Parkplatz vorbei, wo leider wie noch weiter oben zu sehen ist auch schon ein Stück der Schiene fehlt. Nach einem immernoch parkplatzumrandenden Links-Rechts-Geplänkel und einigen Zufahrtsstraßenüberquerungen folgt der erste Drop auf eine etwas tiefer liegende und leider umzäunte Wiese. Trotz der nicht gerade beeindruckenden Ausmaße der Schussfahrt erkennt man Versuche der 90er und 2000er Jahre mit Trim-Brakes der Fahreigenschaften Herr zu werden. Aber ebenso fällt auf, dass in den 2010ern ebensolche Versuche wohl nicht mehr unternommen wurden. So holt sich Gras, Gestrüpp und Gehölz zurück, was man ihm einst nahm.
Bei der weiteren Verfolgung der Strecke steht uns nun leider der bereits erwähnte umzäunende Zaun im Weg, aber da meinem Sherlock inzwischen der in Form meiner Abenteuerlust und Gier nach mehr Orphan Rocker auftretende Watson zur Seite gestellt wurde, geben wir natürlich nicht so schnell auf und betreten ein anliegendes Parkhaus in der Hoffnung auf neue Perspektiven und Möglichkeiten dem Streckenverlauf weiter zu folgen. Und tatsächlich erspähen wir weitere Schienenteile, welche die Strecke um das Parkhaus herum auf die Rückseite des scenicworldschen Hauptgebäudes führen.
Nun bietet leider auch das uns bis dahin so freundlich unterstützende Parkhaus keine Möglichkeiten mehr weitere Blicke auf den Streckenverlauf zu werfen, so dass meine Kombinationsgabe und mein unerhört guter Orientierungssinn uns in Richtung des Ein- und Ausgangsbereiches der dritten (noch fehlenden, aber interessiert das wirklich noch jemanden?) Seilbahn schickt, in der Hoffnung von hier noch weitere Teile des Orphan Rockers nachvollziehen zu können. Und tatsächlich erspähen wir weitere Schienenstränge. Auf der Rückseite des Gebäudes folgt ein weiterer Drop in einen Tunnel unter einem Betriebsweg entlang. Und wäre das Gitter vor dem Tunnel nicht mit einem Schloss gesichert, so wüsste ich nicht, ob ich dem Drang dort hinterherzuklettern wirklich wiederstehen könnte.
Nach einer weiteren kombinatorischen Meisterleistung zur Prophezeiung der weiteren Schienenführung führt uns unser Weg inzwischen routiniert und zielstrebig durch den Souvenirshop auf die andere Seite des Gebäudes. Irgendwann muss es doch mal in Richtung des sagenumwobenden Abgrunds gehen. Und tatsächlich finden wir ein weiteres Stück der australischen Dreigurtschiene, welches auch eindeutig in Richtung der bereits mit der Standseilbahn befahrenen Schlucht führt.
Ja, dort geht es hinunter in der Dschungel. Und trotz aller Bemühungen und Kletterversuche, hier verliert sich leider die Spur. Aber auch wenn wir den vermeintlichen Höhepunkt der Fahrt nicht beschauen konnten, so war ich nass geschwitzt ob dieser einmaligen Adrenalinzufuhr. Noch niemals zuvor hat mich eine noch nichtmals gefahrene Achterbahn so sehr aus den Socken gehauen. Wie man an vielen Stellen sieht, muss leider davon ausgegangen werden, dass der Orphan Rocker wohl niemals mehr in Betrieb gehen wird, auch wenn man bis mindestens 2006 - also immerhin auch schon fast zwanzig Jahre nach dem Bau - ernsthafte und deutliche Anstrengungen unternommen hat, den Besuchern doch noch den Ritt zu ermöglichen. So bleibt dieser Punkt auf unserer Coaster-Count Landkarte wohl für immer weiterhin grau. Aber vielleicht ist das auch gut so, denn der Orphan Rocker wird auf meiner Liste der emotionalisierendsten Achterbahnen wohl trotzdem auf ewig den ersten Platz einnehmen. Und wer weiß, ob er dies immernoch täte, wenn man ihn mal fahren dürfte.
Was für ein Tag!
Gruß,
Brot